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Analyse Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung könnte weitreichende Folgen auch in Deutschland haben: Arbeitgeber in Europa sollen verpflichtet werden, sämtliche Arbeitszeiten zu erfassen.

VON CHRISTIAN ALBUSTIN, BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK

Völlig unterschiedliche Reaktionen hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Arbeitszeiterfassung ausgelöst: Die EU-Mitgliedstaaten müssten künftig sicherstellen, dass Arbeitgeber in Europa die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch erfassen, nicht mehr nur die Überstunden. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) reagierte hocherfreut, die Arbeitgeber empört. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Oliver Zander, beklagte, mit dem Urteil sei die in Deutschland oft praktizierte Vertrauensarbeitszeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern „praktisch tot“. Das könne nicht im Sinne der Beschäftigten sein.

Welche Folgen könnte das Urteil in Deutschland haben? Das Urteil könnte tatsächlich weitreichende Folgen auch für Unternehmen in Deutschland haben, obwohl es sich auf einen Fall in Spanien bezieht. Denn in vielen Branchen, und vor allem in kleineren Unternehmen, werden Arbeitszeiten bisher nicht systematisch erfasst. Das deutsche Arbeitsrecht schreibt zudem lediglich vor, dass Überstunden registriert werden müssen, nicht auch die reguläre Arbeitszeit. Würden Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, sämtliche Arbeitszeiten zu erfassen, könnte dies einen erheblichen zusätzlichen bürokratischen und kostenintensiven Aufwand bedeuten. Kein Wunder, dass die Arbeitgeberseite am Dienstag versuchte, das Urteil zu entzaubern und ihm nur geringe Wirkungen zuzusprechen.

Wie sieht die gelebte Praxis in Unternehmen oft aus? In vielen deutschen Unternehmen gilt die sogenannte Vertrauensarbeitszeit. Demnach überlässt es der Arbeitgeber seinem Angestellten, die vereinbarte Arbeitszeit einzuhalten. Die Vertrauensarbeitszeit könnte durch das Urteil gefährdet sein, was erhebliche Folgen für den Arbeitsalltag und die Betriebe hätte. Doch selbst wenn sie auch mit dem EuGH-Urteil vereinbar wäre, stärkt das Urteil die Arbeitnehmer: Da künftig alle Tätigkeiten als Arbeitszeiten genauer registriert werden müssten, etwa auch das berühmte Checken dienstlicher E-Mails auß­erhalb der regulären Arbeitszeit, dürften sich Arbeitnehmer künftig selbst in der Tendenz mehr Überstunden anrechnen, wenn die EuGH-Vorgabe zu gesetzlichen Änderungen in Deutschland führen würde. Müssten Betriebe mehr Überstunden ausgleichen, gerieten viele von ihnen in Existenznot.

Wie reagiert die Bundesregierung? Das EuGH-Urteil bezieht sich zunächst nur auf einen konkreten Fall in Spanien. Dort hatte eine Gewerkschaft gegen ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank geklagt, um sie zur Einführung eines Registriersystems für die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter zu verpflichten. In Spanien war die Rechtslage bis zum vergangenen Sonntag aber ähnlich wie in Deutschland: In beiden Ländern mussten nur Überstunden aufgezeichnet werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte, er wolle das Urteil nun prüfen und mit Gewerkschaften und Arbeitgebern besprechen, ob eine Anpassung des deutschen Arbeitszeitgesetzes notwendig wird. Minister Heil wich also aus.

Wie argumentieren die Gewerkschaften nach dem Urteil? Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und der DGB haben den Richterspruch im Grundsatz begrüßt. Durch Überstunden würden sich Arbeitgeber innerhalb eines Jahres 18 Milliarden Euro in die eigene Tasche wirtschaften, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.

Wie bewerten Arbeitsrechtler das Urteil? Dass das Urteil des EuGH auch in Deutschland umgesetzt werden könnte, hält der Düsseldorfer Arbeitsrechtsexperte Stefan Haas für durchaus möglich. „Das wäre ein riesiger Verwaltungsaufwand für alle Arbeitgeber“, sagt Haas. Gut ist die Entscheidung Haas zufolge für alle Arbeitnehmer, die auf Anerkennung ihrer Überstunden klagen. „Das ist einer der wenigen Bereiche, in denen der Arbeitnehmer vor Gericht im Nachteil ist“, betont der Anwalt. Die Klage scheitere nämlich oft schon auf der ersten Stufe. Der Arbeitnehmer müsse beweisen, dass er mehr als die übliche Regelarbeitszeit gearbeitet habe – und der Arbeitgeber davon wusste. Mit einer strikten Erfassung aller Zeiten sei dieser Beweis dann viel einfacher.

Welche modernen Formen der Arbeitszeiterfassung gibt es schon? Wenn es sicher und einfach sein soll, sind Ausweise mit eingebauten Chips die aktuell gängigste Lösung. Diese lesen den Ausweis beim Betreten des Gebäudes automatisch ein. In Verbindung mit einer biometrischen Kontrolle – wie etwa dem Scan des Fingerabdrucks – kann zusätzlich gewährleistet werden, dass nur der entsprechende Mitarbeiter Zugang bekommt. Noch sicherer könnte es werden, wenn die Chips direkt unter die Haut verpflanzt werden – keine schöne Perspektive für Arbeitnehmer. Auch mobil einsetzbar sind Handy-Apps zur Erfassung der Arbeitszeit. Der Mitarbeiter kann sich unterwegs am Arbeitsplatz per Tastendruck „einstempeln“ – und das minutengenau. Manche Apps bieten sogar eine GPS-Erfassung an. Diese Apps müssen dann aber auch allen datenschutzrechtlichen Anforderungen genügen, damit aus der Zeiterfassung keine Überwachung wird.

Wie sieht die Arbeitszeiterfassung aktuell aus? In allen klassischen Berufen, die fixe Start- und Endzeiten haben, lässt sich auch die Arbeitszeit einfach erfassen. Doch das heißt nicht, dass alle Hightech-Unternehmen die Vertrauensarbeitszeit predigen. So setzt etwa der Düsseldorfer IT-Dienstleister Sipgate eine digitale Stempeluhr ein. Philipp Dohmen, Mitarbeiter bei Sipgate, beschreibt die Entscheidung so: „Bei Vertrauensarbeitszeit arbeiten die meisten Leute eher mehr.“ Die Arbeitszeiterfassung diene daher der eigenen Kontrolle. Die Mitarbeiter bekommen eine Warnung, wenn sie zu viele Überstunden ansammeln.

INFO

Arbeitgeber und Ökonomen fordern eine Anpassung

Arbeitszeitgesetz Es ist zuletzt 1994 angepasst worden. Es sieht eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden vor. An einem Werktag dürfen normalerweise nur acht Stunden gearbeitet werden. Es gibt aber Ausnahmen, die auch zehn und im Extremfall sogar zwölf Stunden Arbeitszeit zulassen.

Reformbedarf Da im digitalen Zeitalter Arbeiten am Smartphone oder am Laptop technisch immer möglich ist, erledigen Beschäftigte Aufgaben oft auch abends oder am Wochenende. Unabhängig von dem EuGH-Urteil halten Arbeitgeber und viele Ökonomen die Anpassung des Arbeitszeitgesetzes daher für überfällig.

Flexibilisierung „Die Bundesregierung drückt sich seit Jahren darum, das 25 Jahre alte Arbeitszeitgesetz neu zu fassen. Wir haben 32 Millionen Menschen im Normalarbeitsverhältnis mit festen Arbeitszeiten. Die werden aber in der Praxis immer häufiger unterlaufen“, sagt etwa der Bonner Arbeitsmarktexperte Alexander Spermann. Es gehe nicht darum, den Acht-Stunden-Tag abzuschaffen, sondern darum, die vertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit in Deutschland flexibler als bisher auf die Woche, den Monat oder das Jahr verteilen zu können.